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Das
Wörterbuch
in der Geisterbahn
tabu bis uxorious
mit zeitgeistnahen Illustrationen
August 2011

tabu
(1)
Man sollte Menschen nicht nach ihrem Ich fragen. (2) Tabu und
Geheimnis sind die Grundvoraussetzungen der Zivilisation. Wo auch nur eines von
beiden fehlt, da steht die Wiege der Anarchie mit der Barbarei als Amme.
tage
Delacroix:
Alle diese Tage, die nicht aufgezeichnet wurden, sind wie Tage, die es nicht
gegeben hat.
tagebuch
Möglicher
Tagebucheintrag eines pietistischen Pfarrers einer
Zwanzig-Seelen-Großstadtgemeinde unter der Rubrik Vorsätze für das neue
Jahr: „1. Die christliche Religion besteht in der Tat aus 2
heterogenen Teilen. A. Der rein moralischen Art Gott zu dienen. B.
Der biblischen Religion mit dem Glauben an Christum sein Verdienst und
Mittleramt. Beide zusammenzuschmelzen, würde zwar ein bastardartiges Produkt
hervorbringen, denn es sind tatsächlich zwei Religionen … Andererseits die Eine
zum Vehikel der Anderen zu machen; soweit es ohne Glaubenszwang geschieht,
verletzt die Einheit nicht. 2. Mehr Zurückhaltung in der
Selbstbefriedigung üben …“
tagebücher
Tagebuch
führe ich, weil ich fasziniert bin von der Handlung, die ein anderer „mit meinem
Blute“ schreibt. (25. 3. 1994)
tagträumer
Sie, die bei
Tage träumen, Haben Kenntnis von manchen Dingen, welche Denen entgehen, die nur
bei Nacht zu träumen pflegen. (E. A. Poe, Eleonora)
taktik
Populär
formuliert: Theorie & Praxis der Kriegsführung. Die Magnesier am Mäander,
beispielsweise, führten in ihrem Krieg gegen die Ephesier jeder einen Jagdhund
und einen Sklaven mit Wurfspieß mit sich; beim Treffen sprangen zunächst die
Hunde hervor, wild und furchtbar, wie sie waren, brachten sie in die
Schlachtordnung der Gegner Verwirrung; nun erst und um so wirksamer traten die
Sklaven vor und schleuderten ihre Spieße; dann erst als dritte griffen die
Magnesier selbst an.
talent
(1)
Nur wenigen Talentierten ist es vergönnt, sich anders hervorzutun, als durch
einen schnelleren Sprung in den Abgrund, einen Schrei, der stärker gellt, als
der des anderen. Eine seltene Erscheinung ist der, welcher mitten in der
Besessenheit der Umwelt, die man Ergebenheit nennt, Mut und Kraft genug in sich
findet, dem gemeinsamen Schicksal, das ihn mit sich schleift, die Stirn zu
bieten. Im Schatten wird er den Schlüssel zu dem bis dahin gefürchteten
Geheimnis entdecken. (2) Offensichtlich eine Frage der Fähigkeit, sich um etwas
zu kümmern und an den eigenen Glauben wirklich zu glauben, mag er nun wahr oder
falsch sein. (3) Welches besitzen ist lebensgefährlich, denn man kann sich
leicht tot hungern. (4) „… das habe ich von meiner Mutter geerbt, es ist eine
Begabung, von der ich eigentlich wirklich nicht weiß, wozu sie gut ist.“ (O-Ton
die achtzehnjährige Kleptomanin zu den wenigen Vormittagsgästen des
Café Burger) (5) Da
erwachte in seinem Geist 1 beklagenswertes Talent — das Talent, die Dummheit zu
sehen und sie nicht ertragen zu können.
tanz
(1)
Verliert seinen Reiz, wenn man nicht mehr dem anderen Geschlecht gefallen will.
Darum dauert die Neigung zum Tanz bei verheirateten Männern nicht lange; „bei
Weibern“, schreibt Kant, „bis sie alt sind, weil sie beständig gefallen wollen.“
(2) Platon nimmt an, die Nachahmung eines Herganges sei der Entstehungsgrund
jeglichen Tanzes gewesen.
tat twam asi
Du bist du.
(Veda und Vedanta)
taten
Unsere Taten
definieren uns.
tauchen. untertauchen
Skyllias aus
Skione galt als der beste Taucher seiner Zeit (~ 480 v. Chr.); er hatte den
Persern nach dem Schiffbruch am Pelion viele Wertsachen geborgen, sich selbst
aber auch viele angeeignet. Über seine Flucht zu den Griechen heißt es bei
Herodot, er sei bei Aphetai untergetaucht und erst bei Artemision wieder zum
Vorschein gekommen, da die Wasseroberfläche von persischen und griechischen
Schiffen „bevölkert“ war; was eine ungefähre Strecke von 80 Stadien unter
Wasser bedeutet.
taurier
Von ihnen
berichtet Herodot, sie lebten von Raub und Krieg; Schiffbrüchige und andere an
ihr Land verschlagene Griechen, die ihnen in die Hände fielen, opferten sie der
Jungfrau („Iphigencia von Taurien“) auf folgende Weise: zuerst schlugen sie
ihnen nach Verrichtung der Weihebräuche mit einer Keule den Kopf ein; manche
sagten auch, sie stürzten den Körper von den Felsen in die Tiefe — denn der
Tempel stand oben auf einem Felsen —, den Kopf aber steckten sie auf einen
Pfahl; andere wieder stimmten zwar hinsichtlich des Kopfes überein, behaupteten
jedoch, der Körper würde nicht vom Felsen gestürzt, sondern begraben. Den
Feinden aber, die sie gefangen nahmen, schnitten sie den Kopf ab und nahmen ihn
mit nach Hause: hier steckten sie ihn auf eine lange Stange und stellten ihn
weit oben auf das Dach, gewöhnlich über den Rauchfang; dann, so glaubten sie,
und recht eigentlich ahnt man davon noch etwas in unserem Brauch der
TV-Antennen- bzw. Satellitenschüsselaufstellung, schwebe da oben in der Luft
der Schutzgeist über ihrem Hause.
täuschungen
Als 1099 der
Cid Campeador gefallen war, setzte man, um die Völker zu täuschen, statt seiner
eine Kleiderpuppe auf sein Ross.
technik
(synonym
für Fortschritt) Zweifeln an der letztendlichen Zerstörbarkeit
von Technik & Mechanisierung kann nur jener arrivierte Zeitgenosse, der heute,
ein „zufällig weißhäutig gebliebener Nigger“, sich all der modernen technischen
Apparaturen mit einer an Frechheit grenzenden Selbstverständlichkeit bedient,
ohne jene Gedankenwelt, aus der diese Apparaturen erwuchsen, noch auszufüllen.
Schon aus Selbsterhaltungstrieb flüchtet sich dieses anonyme Massenwesen in eine
Vorstellungswelt, in der, mögen rings um uns noch so viel gewaltige Kulturen in
Trümmern liegen, der 4-Takt-Motor Ewigkeitswert beanspruchen darf.
tee
Letztendlich
alles, aber wirklich auch alles, was sich trocknen und im Anschluss mit
Wasser aufbrühen lässt, lässt sich in diesem Endzustand als „Tee“ bezeichnen.
Samuel Johnson und Joseph Conrad tranken ihren mit Milch, verabscheuten jedoch
die Zugabe von Zucker. Der Chevalier de Saint-Germain — gemeint ist ein
Abenteurer, dessen wahrer Name unbekannt blieb, der sich aber Marquis de
Bellamare, Surmont und anders nannte — hatte angeblich einen ganz besonderen Tee
erfunden. Geboren wurde er vermutlich um 1710, gestorben ist er mit großer
Wahrscheinlichkeit 1784. Überhaupt verstand er es, eine Sphäre des
Geheimnisvollen um sich zu verbreiten. So behauptete er — passend zu unserem
Stichwort — allen Ernstes, einen „Tee des langen Lebens“ erfunden zu haben, dank
welchem er bereits zweitausend Jahre lebe, so dass er in seiner „Jugend“ häufig
bei Pontius Pilatus zu Gast gewesen war und ihn zugleich mit Christus eine
vertraute Bekanntschaft verbunden habe.
44 Seiten Text plus 2
Illustrationen
- Sammlerausgabe -
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