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Vorab einige weiterführende Verweise:
Michael Meinicke: „Junge Autoren“ in der DDR 1975–1980, drei-Eck-Verlag, 1986; Kritisches Lexikon zur
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München1985 (aktualisiert 2003); Petra
Ernst in: Neues Handbuch der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945,
München 1993; J. Walther in Sicherungsbereich Literatur,
Berlin 1996; Andreas Koziol in Bestarium Literaricum, Berlin
1991; Adolf Endler: Zu
dem Band Von der Erotik des Zeiten vernichten in Druckhaus Galrev
Programm Frühjahr 2002 und als Klappentext des gleichnamigen Gedichtbandes,
Berlin 2002. Adolf Endler: Frank-Wolf Matthies - Kasperles Geheimnis oder Wörterbuch des
Diagonaldenkens oder Der Zeitgeist alphabetisch sortiert in Geisterbahn 9, Berlin 2005. Günter Grass im Visier - Die Stasi-Akte. Eine Dokumentation mit Kommentaren von Günter Grass und Zeitzeugen, Berlin 2010 (Buch und gleichnamige CD), Autor Dr. Kai Schlüter. * Axel Reitel: Hilfsschule Bixley I und II (tabularasa, 23.3.2015) und Jürgen Serke: Eine Liebe auf den ersten Blick -Ein deutscher Dichter lernt tschechisch, um Ivan Blatný zu übersetzen (21.6.2017). Die Texte von Axel Reitel und Jürgen Serke sind meiner Kenntnis nach auch auf der Seite von Planetlyrik.de nachzulesen ...
... oder aber hier sofort der Aufsatz von Jürgen Serke, mit einer Einführung von Frau Eva Jelínková. Ebenso gleich im Anschluss der Aufsatz von Axel Reitel.
(Wobei ich hoffe, dass weder Frau Eva Jelínkova noch Herr Axel Reitel an einer Veröffentlichung an diesem Ort Anstoß nehmen - entsprechende Anfragen meinerseits blieben leider ohne Antwort; sobald jedoch dieser Veröffentlichung widersprochen wird, werde ich sie selbstverständlich sofort entfernen.)
Frank-Wolf Matthies, 04.04.2021
Eva Jelínková
Es schreibt: Jürgen Serke
(21. 6. 2017)
Der deutsche Schriftsteller und Publizist Jürgen Serke (geb. 1938) befasst sich in seinem gesamten Werk mit verfolgten und lange Zeit übergangenen Künstlern. Moderne tschechische Autoren wie auch deutschsprachige Schriftsteller aus den böhmischen Ländern nehmen hierbei einen wichtigen Platz ein. Mit dem tschechischen Milieu kam Serke erstmals 1967/68 in Prag in Berührung, wo er als Korrespondent der Frankfurter Nachrichtenagentur UPI über den „Prager Frühling“ berichtete. Seine später in Zeitschriften (v. a. im Stern) erschienenen literarischen Reportagen wie auch die von ihm konzipierten Ausstellungen (derzeit die Dauerausstellung Himmel und Hölle 1918 bis 1989 im Museum der verfolgten Künste Solingen), in denen er langjährig gesammelte Fotografien, Dokumente, Manuskripte, Briefe und vor allem Bücher präsentierte, machten das deutsche Publikum mit führenden Vertretern der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts und mit der untergegangenen Welt der deutschsprachigen Literatur aus Prag, Böhmen und Mähren bekannt.
Verfolgten Autoren gelten auch mehrere von Serkes Büchern: Neben deutschen Schriftstellern und Dichtern, deren Werke während des Hitlerregimes verbrannt wurden (Die verbrannten Dichter, 1977), befasste er sich mit Autoren, die in den totalitären Regimen der Nachkriegszeit Verfolgungen ausgesetzt waren. So skizzieren die literarischen Porträts in seinem Buch Die verbannten Dichter (1982) Leben und Werk ostdeutscher, tschechischer und polnischer Exilschriftsteller und enthalten u. a. Beiträge zu Jiří Gruša, Milan Kundera, Pavel Kohout oder Ivan Blatný – insbesondere Letzteren hat Serke für die westliche Welt buchstäblich entdeckt. In einer separaten Buchpublikation befasste er sich zudem mit frei denkenden Schriftstellern aus Ostdeutschland, die „Zuhause im Exil“ (1998) blieben und sich in ihrem Widerstand gegen das Regime von Persönlichkeiten der Charta 77 inspirieren ließen.
Dem Leben und Werk deutschsprachiger Autoren aus den böhmischen Ländern wandte sich Serke während der sogenannten „Normalisierung“ zu, als in der Tschechoslowakei weder Forschungen zu diesem Thema noch die öffentliche Behandlung dieser Problematik erwünscht waren. Sein Buch Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft enthält nahezu fünfzig Porträts von Schriftstellern, die aus den böhmischen Ländern stammen, auf Deutsch schrieben und vom Nazi-Regime, manche auch von der darauffolgenden kommunistischen Diktatur, verfolgt wurden. Dabei handelt es sich um Autoren, die im wahrsten Sinne des Wortes aus unserem Gedächtnis entschwunden waren. Die 1987 auf Deutsch erschienene Publikation machte jenseits der tschechischen Landesgrenzen auf die komplizierte kulturelle und geopolitische Entwicklung dieser Region aufmerksam. Die tschechische Übersetzung des Buches (Triáda 2001), die vom Autor um ein Porträt des Malers und Dichters Peter Kien erweitert wurde, gewann 2002 den Hauptpreis des tschechischen Magnesia Litera Book Awards.
Serkes Bücher und Artikel öffneten vielen Menschen einen Weg zu wichtigen literarischen wie auch persönlichen Begegnungen und Entdeckungen. Von einer solchen Begegnung erzählt der von Serke für das E*forum verfasste Text über den Schriftsteller und Ivan-Blatný-Übersetzer Frank-Wolf Matthies, den wir an dieser Stelle veröffentlichen. Jürgen Serke wird am Freitag, dem 23. Juni 2017, mit dem Gratias-Agit-Preis zur Förderung des Ansehens der Tschechischen Republik im Ausland geehrt.
Eva Jelínková
Jürgen Serke
Eine Liebe auf den ersten Blick
Ein deutscher Dichter lernt tschechisch, um Ivan Blatný zu übersetzen
Dies ist eine wunderbare Geschichte, in der Vergangenheit in die Zukunft geschrieben ist. Im November vergangenen Jahres bekam ich ein außergewöhnliches Buch mit einem Schreiben: „Sehr geehrter Herr Serke, ich hoffe jetzt einfach mal, dass Sie sich meiner zumindest vage erinnern werden – und schicke Ihnen dieses eben erschienene Buch, denn schließlich bin ich Ihnen zutiefst dankbar dafür, mich mit dem Dichter Ivan Blatný bekannt gemacht zu haben. Es war für mich das, was man oft viel zu leichtfertig eine ‚Liebe auf den ersten Blick‘ nennt.“
Das Buch, das ich in Händen hielt, war Band IV der Lyrik von Ivan Blatný mit dem Titel Hilfsschule Bixley – die Gedichte Pomocná škola Bixley galten bisher als unübersetzbar. Inzwischen habe ich all diese bibliophil gestalteten Bände. Es sind Nachdichtungen aus dem Tschechischen des deutschen Lyrikers Frank‑Wolf Matthies, der Blatnýs Sinnlichkeit, seine Rhythmik und klanglichen Gestaltungsmomente kongenial getroffen hat. Dazu Collagen des Berliner Malers Lutz Leibner (geb. 1949) von einer Intensität, wie sie zu spüren ist in den Collagen Jiří Kolářs (1914–2002), des Freundes Ivan Blatnýs. Ich erinnere mich, wie der 31jährige Matthies mit seiner Frau Patricia, die das Zentrum seiner Lyrik ist, 1982 in meinem Haus in Großhansdorf bei Hamburg auftauchte – allein wegen Ivan Blatný. Den hatte ich ein Jahr zuvor im St. Clement's Hospital im englischen Ipswich, einer psychiatrischen Anstalt, aufgesucht und ein Porträt im STERN-Magazin veröffentlicht. 33 Jahre zuvor hatte sich Blatný von einer tschechischen Schriftstellerorganisation bei einem Besuch in London kurz nach dem kommunistischen Putsch 1948 in der Tschechoslowakei abgesetzt, war in eine psychiatrische Anstalt geflohen und der kommunistischen Verfolgung in seinem Land entkommen.
Ivan Blatný, 1919 in Brünn geboren, war in seinem Heimatland als Verfasser von vier Gedichtbänden berühmt. Nach seiner Flucht nach London wurde er zum Vaterlandsverräter gestempelt. Die Krankenschwester Frances Meacham hatte ihn in Ipswich entdeckt. Sie, die im Zweiten Weltkrieg einen tschechischen Piloten geliebt und Tschechisch gelernt hatte, sorgte dafür, dass Blatnýs Gedichte, die er in der Anstalt schrieb, nicht mehr in den Müll wanderten. Mrs. Meacham bewahrte die Gedichte bei sich zuhause und schickte viele von ihnen nach Kanada zum tschechischen Exil-Verlag Sixty‑Eight Publishers, der sie veröffentlichte.
Das alles ist heute in der Tschechischen Republik bekannt. Als Blatný 1990 in England starb, wurde seine Urne auf dem Friedhof in Brünn beigesetzt. Sein Werk ist wieder in der Tschechischen Republik erhältlich. Auch in deutscher Übersetzung gibt es einen Lyrikband: Stará bydliště, übertragen von Christa Rothmeier unter dem Titel Alte Wohnsitze. Das Opus magnum, die Hilfsschule Bixley, vor einem Jahrzehnt angekündigt, ist nicht erschienen. Deshalb mein unglaubliches Erstaunen, als ich Band IV der Gedichte in der Hand hielt.
Frank-Wolf Matthies hat die vier Bände zusammen mit seinem Malerfreund Lutz Leibner auf eigene Kosten drucken lassen. In einer Auflage von 5o Exemplaren, die an Freunde verschenkt werden. In einem der Blatný‑Bände steht: „Gewidmet Jürgen Serke, ohne den es dieses Buch nicht gäbe.“ In einem anderen: „Für Jürgen Serke, der mir diese Welt geöffnet und somit den Einlass ermöglicht hat.“
Man liest das beglückt und zugleich erschrocken, kramt alle Bücher von Frank‑Wolf Matthies hervor, die im Bücherschrank stehen, und sucht nach einer Erklärung der Verklärung des Dichters Blatný. Matthies, 1951 in Ostberlin geboren, wird 1979, 1980 und 1981 mit drei Bänden Lyrik und Prosa sichtbar, nicht in der DDR, sondern im Westen beim Rowohlt‑Verlag. Mit einer sicheren Liebe an seiner Seite, seiner Frau Patricia, die ihm noch heute Sicherheit gibt. Er lebt und schreibt wahrhaftig in einem Land, in dem man nicht wahrhaftig sein darf.
Zweimal wird er in Ostberlin verhaftet. Was er geschrieben hat, wird von der Staatssicherheit (Stasi) als „Beleidigung und Herabwürdigung“ des SED-Systems gewertet. 1981 lässt man ihn und seine Familie ausreisen. Günter Grass nimmt die Familie in seinem Westberliner Haus auf. Er bleibt, was er in Ostberlin immer gewesen ist: unbeugsam. Das macht ihn auch im Westen schnell unbequem. „Beuge dich nur für die Liebe.“ Dieser Satz des einstigen Résistance‑Kämpfers René Char könnte auch seine Lebensmaxime sein.
Noch einmal wird er sichtbar mit seiner kraftstrotzenden Verzweiflung bei einem bedeutenden Verlag: bei Suhrkamp mit seinem Tagebuch Fortunes. Zahlreiche Bücher folgen bei kleinen Verlagen. Der Kampf mit sich, gegen seine Verletzungen und mit der DDR dauert lange. Der Dichter als sein eigener Therapeut. Seine zeitgenössische Version der Aeneis ist ein großes Prosawerk, das in der Bundesrepublik schon nicht mehr wahrgenommen wird. Immer wieder geht es darum, aus der traumatischen Situation Jugendjahre in der DDR herauszufinden.
Im Tagebuch Fortunes (1985) taucht Ivan Blatný erstmals mit einem Gedicht aus meinem Porträt über den Dichter in Ipswich (Die verbannten Dichter, 1982) auf. Jiří Gruša, der bei meinem Besuch Blatnýs dabei war, hatte es für mein Porträt übersetzt. Gruša sollte aus dem Tschechischen dolmetschen. Es war nicht nötig. „Sprechen Sie deutsch“, sagte der damals 61jährige zu mir, „Deutsch ist die Sprache meiner Großmutter. Es ist die Sprache meiner Wünsche. Großmutter habe ich sie gesagt.“
Matthies sagt: „Seit Ihrem Text im STERN und dann in Ihrem Buch ist Ivan Blatný immer in mir anwesend. Er lässt mich weiterleben. Wenn es mir schlecht geht, zieht er mich hoch.“ Im Jahre 2013 erlitt Frank‑Wolf Matthies einen schweren Schlaganfall. Es grenzt an ein Wunder, dass er die Lähmungen nach einem Jahr überwunden hatte.
Matthies wohnt heute am Rande Oranienburgs bei Berlin. Die vier Kinder sind längst erwachsen. Seine Frau, eine Lehrerin, ist inzwischen pensioniert. Und so erlebe ich bei meinem Besuch der beiden ein Paar wie Philemon und Baucis. Er, ein schmaler hochgewachsener Mann, hat gerade eine Lungenentzündung überwunden.
Nach dem Schlaganfall begann Matthies mit den Blatný‑Nachdichtungen. „Ich sagte mir, jetzt wird es langsam Zeit, wenn du es lesen willst.“ Und nun traute er sich, das Tschechisch, das er sich selbst beigebracht hatte, umzusetzen für seine deutschen Nachdichtungen. Das Lernen der tschechischen Sprache nennt er ein Vertrautmachen. „Wenn ich mich selbst befragen würde, danach, ob es Dichter gibt, zu denen ich Vertrauen habe und die mir vertrauen können, dann wären das Friedrich Hölderlin, Friedrich Nietzsche und Ivan Blatný.“
Matthies spricht so, als lebten sie alle noch, deren Namen er nennt. Er trägt sie in sich. Wenn er von Blatný spricht, sagt er: „Die Sprache singt. Jedes Wort gibt das nächste Wort. Blatný lebte 4o Jahre in einer völlig fremden Kultur. Niemand war eigentlich da in seiner eigenen Sprache. Und dann das Wunder dieser Lyrik.“
Den drei von Matthies bewunderten Dichtern wird Wahn, Wahnsinn zugeschrieben. Wenn es so ist, war es die hohe Zeit der Dichtung. Matthies gibt den Zuschreibungen einen anderen Sinn: „Einzig, was in der Phantasie existiert, existiert tatsächlich – lebt, einzigartig, universal, unsterblich.“
In der Nachdichtung Hilfsschule Bixley gibt Matthies dem Durcheinander des desaströsen 2o. Jahrhunderts die Struktur einer Erinnerung aus der Einbildungskraft Blatnýs. Blatný und Matthies zeigen die Dissonanz als Geheimnis der Harmonie. Matthies hat den Gedichten des Tschechen einen voluminösen Anmerkungsapparat als Anhang hinzugefügt – wegen der häufigen Verwendung von realen Personen- und Ortsnamen und Geschichtsdaten. Er zeigt auch, wie Blatný im Wechsel von tschechischer Sprache in die englische oder deutsche sein Europa verteidigt und zusammengehalten hat.
Übersetzung der Einleitung: Ilka Giertz
Axel Reitel
Hilfsschule Bixley I und II
Zwei Bände des großen Lyrikers Ivan Blatný in famoser Übersetzung von Frank Wolf Matthies
Als Milan Kundera 1981 vom Journalisten Jürgen Serke auf einem Slawisten-Kongress in Philadelphia einen Gedichtband von Ivan Blatný (21. Dezember 1919 in Brünn - 5. August 1990 in Colchester)in die Hand gedrückt bekam, begann er zu schwärmen: „Den mußt du besuchen. Wenn du wissen willst, wie phantastisch tschechische Lyrik in den vierziger Jahren war, dann wirst du es bei ihm erfahren. Einer der großen. Und Momente dieser Größe findest Du in diesem Band.“
Zu dieser Zeit lebte Blatný seit drei Dekaden bereits im Irrenhaus, Insasse des „Warren House“ im St. Clemen's Hospital, bei Ipswitchtown, in England. 1948 setzte sich Blatný in London von einer tschechoslowakischen Delegation ab, um der vorgeahnten stalinistischen Säuberungen in der Heimat zu entgehen.
Beispiel liefernd in Erinnerungen zu bringen wäre der Historiker Záviš Kalandra, dem in Prag ein Schauprozess unvorstellbar niederträchtiger Manier gemacht wurde, bei dem vornherein feststand, dass man den „Angeklagten“ aufhängen würde.
Ein weiteres Vernichtungsmittel der an die Macht gelangten kommunistischen Putsch-Spezialisten, waren Entführungen angeblicher Renegaten aus dem Ausland. Ein Gutteil der Entführten wurde im Auftrag von Partei und Geheimdienst nach der „Rückführung“ dann auch umgebracht.
Dass Ivan Blatný auch seine Entführung zu Recht befürchtete, legen die Akten der tschechischen Staatssicherheit nahe. Und die Angst vor der eigenen Entführung lähmte Ivan Blatný selbst in der Freiheit schließlich. Wo konnte er sich da schon sicher fühlen?
Ivan Blatný wählte die Flucht zu den geistig Zerrütteten und tatsächlich glaubte alle Welt jetzt, auch er sei geisteskrank geworden. Und natürlich ging in der Verrückten-Anstalt auch das Aufsichtspersonal davon aus.
Was Ivan Blatný hinter den Mauern der Anstalt auch schrieb, wurde von Personal ihm weggenommen und als das Geschreibsel eine Bekloppten vernichtet. Dies änderte sich – welch wundersame Fügung – mit einem Schlag im Jahre 1976.
Zu dieser Zeit war Ms. Frances Meacham als Krankenschwester tätig. Durch einen Angestellten kam ihr Liste der Insassen des „Waren House“ in die Hände. Der Name Ivan Blatný fiel ihr auf. Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sie eine Liebesbeziehung mit einem tschechischen Piloten, der in der englischen Luftwaffe gegen Nazideutschland kämpfte. Die Beziehung zerbrach zwar nach dem Krieg, doch dafür besuchte Ms. Meacham die CSSR immer wieder. Sie besuchte Blatný und bekam am Ende des Besuchs einen Packen Zettel mit der Bemerkung in die Hand gedrückt, die würden „sonst doch vom Wärter weggeworfen.“
Ms. Meacham sorgte dafür, dass Blatný einen „Tisch in der Ecke einer Anstaltswerkstätte“ bekam, wo er schreiben konnte. Die Wärter warfen nichts mehr weg. Blatný bekam sogar eine Schreibmaschine. Derweil nahm Ms. Meacham Kontakt auf mit dem tschechischen Exil-Verlag Sixty-Eight-Publishers, mit Sitz in Kanada. Der veröffentlichte Band „Ivan Blatný Pomocná škola Bixley“ (1979), veranlasste den Schriftsteller Milan Kundera auf dem Slawisten-Kongress in Philadelphia, von der Lyrik Ivan Blatnýs zu schwärmen. Es folgten weitere Ausgaben 1987 und 2011.
In den Jahren 2013 und 2014 legte der Schriftsteller und Dichter Frank Wolf Matthies „Bixley“ in deutscher Übersetzung komplett in zwei Bänden vor, jedoch „ausschließlich für den privaten Gebrauch und als Geschenk gedacht“. Was der Rezensent mehr als bedauerlich findet, denn Milan Kunderas Schwärmen lässt sich bei der Lektüre im Jahr 2015 noch vollkommen nachvollziehen. Mit seinen Übertragungen ist wirklich Frank Wolf Matthies etwas Wunderbares gelungen.
Schon der Titel Hilfsschule Bixley“ verweist auf ein zu erwartendes singuläres Ereignis und ist eines schon selbst. Versuchte Vergleiche halten dieser Originalgröße kaum stand. Und eines ist auch versprochen: diese Bixley-Gedichte toppen alles, was im Augenblick auf dem Amt ist. Diese Lyrik gibt sich nicht nur so. Die frühe Lyrik Blatnýs – die in den vier Büchern gegen Ende Zweiten Weltkrieges erschien – gehört nach Ansicht des Rezensenten getrost in eine Reihe mit T.S. Eliot, Carl Sandberg, Dylan Thomas, Walt Whitmann. Ohnehin zählte Ivan Blatný dieses Quartett zu seinen „Quellen der Inspiration“.
Aber noch die Bixley-Dichtung, mit ihren „Momente dieser Größe“, besitzt die Wirkung großer poetischer Sprengkraft, von der Leonard Cohen sagt: „There is a crack in everything / That's how the light gets in". Eine Kostprobe aus Band I. Ivan Blatný nennt das Gedicht schlicht „Anarchie“ und zeigt vom ersten bis zum Schlussvers damit eine ziemlich eigene Wahrnehmung dieses Phänomens.
Hier ist die Welt ohne Mief
Hier ist die Welt ohne Chief
Tschechisch heißt Eis mit Schoko Eskimo
Wie immer sitze ich froh
auf der dritten Bank in der Felixtown Road
Immer am Wochenende
Behütet – doch bis zum Ende?
Die Welt dieses vollendeten Gedichts ist vor allem ohne – fast vermeint der Rezensent sagen zu müssen deutsche - politische Hintergedanken. Erich Mühsam beispielsweise ist alle Ehren wert, doch von einer derartiger gleichermaßen von Philosophie und Ironie getragenen Poesie war er Lichtjahre entfernt. Hier antwortet mit einem verwandten Gedicht, wenn auch weniger satirisch, doch eine antike Schönheit, mit dem zu ihrer Zeit größten lyrischen Talent, mit Namen Sappho. Das Gedicht heißt schlicht „Der Apfel“:
Einsam rötet und ründet sich
Zuhöchst im Gezweige
Der süßeste Apfel.
Vergaßen die Pflücker ihn?
O sie vergaßen ihn nicht;
Zu fern nur
Reift er den Händen ...
Wer hier eine Verwandtschaft zwischen den beiden Gedichten sieht, sei herzlich aufgenommen in den Kreis der wahren, echten Leser.
Felixtown Road -Felix-Felice- das Glück Was ist Glück? In beiden Gedichten geht es schlicht um diese Frage. Und die Antworten in beiden Gedichten sehen sich nicht nur ähnlich, beide bauen darauf, dass es noch immer etwas gibt, das in der Zukunft liegt. Und das möglichst fern jeder verlautbarenden wie verheißungsvollen Meta-Erzählung.
Der „süßeste“ Apfel oder „behütet“ auf der Felixtown Road, beide – Gefühl und Gedanke – passen irgendwie doch traumpaarhaft zusammen. Sich konspirativ disziplinieren zu lassen, zusammengepfercht auf diesem gesellschaftlichen Floß der Medusa – wer nicht spurt, wird verfolgt, bis er erstarrt - mit diesem Denken können die beiden nichts anfangen. Bei beiden behalten Inhalt und Ausdruck ihren wahren Ursprung. Beide sagen etwas anderes nie, als sie meinen.
Die ihn lesen, können sich auf Blatný verlassen, er ist in seinen Gedichten zu sehen. Sein lyrisches spricht: „ich habe heute zwei Stifte und jede Menge Papier / Tinte und Federn schäkern vor Tisch“. Das Synonym schäkern für flirten. Und eher ein Flirten wie von Clowns, die doch am Ende schließlich die vermeintlichen Götter hinter der falschen Maske – mit Papiergeschossen natürlich - hervor zerren.
Genau diese Haltung – der Rezensent kommt schon zum Schluss – folgt der bildende Künstler Lutz Leibner mit seinen gelungenen grafischen Beigaben. Was die Entsprechung von Bild und Text betrifft, sei auf die Reduzierung kongenial hier verzichtet. Lutz Leibners (unbetitelte) Bilder in beiden Bänden lassen die Gedichte Blatnýs förmlich zu Form und Farbe werden. Im Gedicht „Schicksal“ formulierte Blatný ein philosophisches Bonmot, der es zumindest geschafft hat, inzwischen in aller Munde zu sein: „Du hast keine Chance also nutze sie“. Und dazu die Bilder von Lutz Leibner, das haut einfach hin. Ohnehin die einfach großartigen Übertragen von Frank Wolf Matthies.
Axel Reitel
PS: Wie der Rezensent erfuhr, befindet sich „Hilfsschule Bixley Band III“ in Progress.
Ivan Blatný, Hilfsschule Bixley & andere Gedichte. Mit Bildern von Lutz Leibner. Ausgabe nur für Privat und zum Verschenken. Nicht paginiert. Nachdichtungen von Frank Wolf Matthies. Alle Rechte beim Nachdichter.
Ivan Blatný, Hilfsschule Bixley II. Gedichte. Mit Bildern von Lutz Leibner. Ausgabe nur für Privat und zum Verschenken. Nicht paginiert. Nachdichtungen von Frank Wolf Matthies. Alle Rechte beim Nachdichter.
Die folgende Auswahl wurde freundlicherweise von Egmont
Hesse vom
DRUCKHAUS GALREV zur Verfügung gestellt
Zu Morgen
Das erste Buch des
DDR-Autors Frank-Wolf Matthies
ist ein Beispiel
für die Veränderung des Gesellschafts- und Literaturverständnisses der letzten
Jahre. Die Gedichte und Prosastücke beschreiben die DDR-Wirklichkeit auf
beeindruckende Weise. Im Spannungsfeld von Beziehungslosigkeit, Verbitterung,
Ratlosigkeit und täglicher Verletzung vertritt dieser junge Autor das
Lebensgefühl einer Generation, die nicht verantwortlich ist für vergangene
Schuld, die nicht mehr bereit ist, das Bestehende zu akzeptieren, die anders
leben will. Da gibt es keine Angebote, keine Kompromisse mehr, aber schmerzhaft
genaue Beobachtungen. Unnachgiebig selbstbewußt und mit seltener
Eindringlichkeit und Ehrlichkeit besteht Matthies auf Beendigung der
Enttäuschung, und das gilt nicht nur für die DDR: „MORGEN werde ich mich aus dem
sessel / erheben & zu der tür gehen, die mich herausbringt / aus der mitte des
hauses, vorbei am geöffneten / balkon: sie wird meine hand nehmen mit der ihren
/ & sie legen in die andere: so werden wir es erreichen / den raum im großen
traumhaus ständig zu betreten / indem wir ihn verlassen: frei von schuld:
MORGEN“
Rowohlt Verlag,
Klappentext, 1979
Friede,
Gleichheit, Coca-Cola.
-„Diese
Scheißangst, die mir Mut macht“: Das erste Buch eines DDR-Schriftstellers.-
Glück sei schwer
in diesem „satten Land“. Er schreibe, bekennt der Lyriker, „für die rebellische
jugend“, die sich austobt bei Rock-Konzerten, „die arbeitet & lernt & / die sich
langweilt an / den straßenecken & den öffentlichen / plätzen der stadt, den
jugend / clubs & vor den fernsehgeräten / in den wohnstuben ihrer eltern / (die
sich ihre sprachlosigkeit / vorschweigen) & für ihre liebe & / für die rolling
stones“.
Diese Verse
beschreiben nicht etwa bundesdeutsche Realität. Frank-Wolf Matthies’ Gegenstand
ist die DDR, in der er lebt. Geboren 1951 in Berlin, war er nach Abschluß der
mittleren Reife als Kunstschlosserlehrling, Bankhilfskraft, Reichsbahndispatcher,
Hilfsschuster, Grabenzieher und beim Fernsprechamt tätig. Wegen
„staatsfeindlicher Hetze“ befand er sich in Untersuchungshaft, anschließend
Wehrersatzdienst als Bausoldat. Seit 1977 lebt Matthies als freiberuflicher
Schriftsteller in Ostberlin.
Sein erstes und bislang einziges Buch –
Frank-Wolf
Matthies: „Morgen – Gedichte und Prosa“: dnb 122, Rowohlt Taschenbuch Verlag,
Reinbeck, 1979; 156 S., 10,-DM
Konnte nur in der
Bundesrepublik erscheinen, denn in der DDR hat Matthies Veröffentlichungs- und
Lesungsverbot. Schon wieder einer dieser gebeutelten Schriftsteller, die, bloß
weil sie den „realen Sozialismus“ an seinem eigenen Anspruch zu messen wagen,
stillgelegt werden?
Mit Matthies
meldet sich eine neue Generation von DDR-Oppositionellen zu Wort, in einer
Sprache, die derjenigen ihrer westlichen Altersgenossen nicht unähnlich ist.
Bereits das Motto des Buches: „Denn nichts als Verzweiflung kann uns retten“
(ein Grabbe-Zitat) drückt eine vielen jungen Menschen gemeinsame
gesellschaftliche Erfahrung in den späten siebziger Jahren aus. Frei von
historischer Schuld, daher verständnislos und voller Wut beobachten sie das
Staatstheater der Herrschenden, und es ekelt sie an. Sie wollen anders leben,
sich nicht länger im Dienst des angeblichen Fortschritts verplanen,
reglementieren, einsperren lassen, und so klagen sie ihr Recht auf
Selbstverwirklichung und Glück aggressiv ein. Jenseits der Frage nach ihrer
literarischen Qualität erscheinen mir Matthies Verse bedeutsam als eine Art
soziales Porträt von Teilen der DDR-Jugend. Die Repression wird nicht mehr als
„historisch notwendig“ legitimiert oder vorsichtig befragt (mit der Bitte, sie
doch ein wenig humaner zu gestalten), sondern heftig angegriffen.
Die Gedichte und
Prsosastücke dieses Bandes sind innerhalb von zehn Jahren entstanden und
chronologisch angeordnet. Man könnte sie unter die auch in der Bundesrepublik
wirksame Erziehungskurve fassen: Wie einem Optimismus und Lebensfreude
ausgetrieben werden; oder: Wie einer unter dem Druck kruder Verhältnisse,
gezwungenermaßen, sich politisiert. Noch zu Anfang, 1969, klingen Matthies’
Verse locker, harmlos, spontan. Jugendliche hocken im Arbeiter- und Bauernstaat
beisammen, sprechen über Mao und LSD, hören Zappa, sie sind nicht besonders
arbeitsam, nicht begeistert für den Staat, sie deklamieren „friede gleichheit
coca cola“ und finden die Erwachsenen mit ihren feierlich verlogenen Gesichtern
ziemlich komisch. Es sind die provozierenden Gesten der weltweiten
Jugendrevolte, der Rock-Musik; unbefangen zupackende Verse: „he, ich bin der
glücksgott / der kriegsgott bin ich auch / mit mir ist gut weintrauben / essen,
he, ich bin der glücksgott.“
Bis 1973 schreibt,
Matthies gereimte, liedhafte Texte, freche Moritaten, gebildet aus grotesken
Reihungen, wie man sie etwa bei Lyrikern zwischen Expressionismus und Dada
findet, bei Alfred Lichtenstein oder Jakob van Hoddis. Und wie sie besingt
Matthies den Wechsel der Jahreszeiten in der geliebt-gehaßten Großstadt: „der
frühling ist da. / die knospen platzen- / auf den mietskasernen / pfeifen massig
spatzen. / ich schrei gedichte ich singe lieder- / hier ist frühling / der
winter kriegt den nicht wieder.“
1974 beginnt
Matthies’ Gedichten ein immer lauter werdender Protest gegen das
allgemeingegenwärtige Kontrollsystem, gegen die Privilegien der Bonzen und
Mitläufer, anfangs noch in metaphorischer Verkleidung, als unbestimmte Wut auf
die „kälte“ der Stadt und ihrer Bewohner, in teilweise mißglückten Bildern, wenn
etwa von den „betonierten schamlippen“, dem „stahlbetonglied“ der Stadt die Rede
ist. Das Angstmotiv durchzieht von nun an Matthies‘ Verse, wie es sein Leben
prägt: „die angst zwingt mich / zu feinerem stil – sie zwingt / mich in die
metaphern / sie zwingt mich auch / formal – die angst, sie / ist für mich
produktiv.“
Produktiv in der
Weise, daß die Angst („diese scheißangst / die mir mut macht“) dem Autor hilft,
die Dinge so zu sehen, „wie sie wirklich sind“. In einem „Nachtrag ins
Vernehmungsprotokoll“ überschriebenen Gedicht formuliert Matthies eine Art
Bekenntnis. Er schreibe „für die benutzer der betonsilos“, für die
„wohnungssuchenden“ wie für die „6-zimmer-besitzer“, auch „für die parasiten
beim / wohnungsamt, in den büro-palästen: die deutsche / beamtensau“, für die
„feisten NEUEN DEUTSCHEN LITERATUR-verwalter“, „für die beamten der DEUTSCHEN
VOLKS / POLIZEI … die jeden zweifel / in feindschaft umdeuten / & jede kritik in
verrat“ – für sie alle schreibt er nun mit der Angst und dem Mut „des sich im
unrecht wissenden“.
Neben explizit
politischen Gedichten macht er weiterhin einfache Lieder, gereimte
Unsinnspoesie, Wortspielereien, Figurenporträts (so eines über den verehrten
Günther Bruno Fuchs, dessen Figur, in dichter, rhythmisch verknappter Sprache,
aus Sätzen und Redewendungen entsteht), Tierparabeln, ein Rätselgedicht, dessen
Lösung, aus den Anfangsbuchstaben der Verse gebildet, „WOLF BIERMANN WIEDER
SINGEN DARF“ lautet. Es gibt Gedichte, die – nach Préverts Vorbild – in der
puren Aufzählung von Gegenständen bestehen. Und es gibt schließlich fast
hermetische Verse, deren Bildlichkeit an Trakl und Benn orientiert scheint.
Dabei wirkt Matthies hilflos, in konventioneller Metaphorik und forcierter
Künstlichkeit befangen.
Fast durchgängig
verstößt Matthies, einzelne Worte und Sinneinheiten durch Zeilenbruch
zerhackend, gegen das „schöne“ Gedicht. Wo die Sprache unpoetisch und der
Rhythmus holperig wird, scheinen die zerstörerischen Bedingungen, unter denen
der Autor lebt, bereits in die Struktur seiner Texte eingedrungen zu sein,
Verhältnisse, die – ähnlich wie bei Peter Paul Zahl – so etwas wie Ruhe, also
Poesie nur noch ausnahmsweise (etwa als Zitat vergangener Kunstformen) erlauben.
Folgt man dem
Ablauf der Gedichte, so scheint sich die Lebenssituation Frank-Wolf Matthies’
1976 weiter zu verdüstern. Überall Schnee, Eis, Sturm, der „unsere lieder
überbrüllt“. Aber auch Widerstand gegen den „langsamen tod“, Anklage im Stil
Villons, mit zupackenden, gehackten Sätzen:
zwölf
hände reichen,
nicht mehr aus zu zählen
den abgang in den eignen
reihn. Die republik läuft aus
wie rostige spritkanister
: bald bin ich hier
mit honecker
allein
Widerstand gegen
Gewalt von oben, Kampf gegen Resignation und Verzweiflung – ein beunruhigendes,
in seiner subjektiven Konsequenz erschreckend mutiges Buch. Es zeugt von der
Verzweiflung des Vereinzelten, die die Mächtigen nicht wahrhaben wollen und die
die staatsloyalen Poeten mit schäbigen Ergebenheitsadressen zuzudecken
versuchen. „die federn fallen aus / & überall ist neues deutschland.“ Unter
Berücksichtigung der unterschiedlichen sozialen und historischen Bedingungen
scheinen mir Matthies’ Texte, bis in stilistische Mittel hinein, den frühen
Gedichten Enzensbergers vergleichbar, mit denen dieser stellvertretend für seine
Generation gegen Erstarrung und Hoffnungslosigkeit in Adenauers Staat
rebellierte.
Michael Buselmeier,
Die Zeit, 16.11.1979
Für die Benutzer
der Betonsilos.
-Texte aus zehn
Jahren: „Morgen“.-
Ein DDR-Autor nach
dem anderen verläßt das Land. Die Zahl derer, die dem ersten „Arbeiter- und
Bauernstaat auf deutschem Boden“ seit Biermanns Ausbürgerung im November 1976
für immer oder auf Zeit Valet sagten, ist immer noch im Steigen begriffen. Wer
bleibt denn noch und gibt Auskunft, nachdem Jurek Becker und Thomas Brasch,
Jürgen Fuchs und Bernd Jentzsch, Sarah Kirsch und Reiner Kunze, Günter Kunert
und Hans Joachim Schädlich, Klaus Schlesinger und Bettina Wegner sich im Westen
niedergelassen haben, ob mit, ob ohne Besuchsrecht im Osten?
Gewiß, es gibt
noch immer eine stattliche Anzahl von respektablen Schriftstellern drüben: Adolf
Endler und Franz Fühmann, Stefan Heym undRichard Leising, Rainer Kirsch und Karl
Mickel, Heiner Müller und Stefan Schütz, Anna Seghers und Christa Wolf. Freilich
gehören sie alle der mittleren oder älteren Generation an und genießen auf Grund
ihrer Publizität auch unter den verschärften Strafgesetzen eine gewisse
Protektion.
Was aber ist mit
den jüngeren, den 20- bis 30jährigen. Schreiben sie überhaupt, und wenn ja, was
taugt es? Hat die konsequente sozialistische Ausrichtung von Kindergarten,
Schule, Universität, des Berufs wie großer Teile der Freizeit den neuen
Menschen- und Autorentypus hervorgebracht, der blind auf die Parteidoktrin
schwört? Gewiß, es gibt sie, die „jungen Poeten, die ihren Weltschmerz in die
Poesiealben der verordneten Meinung kotzen“, die „flüsternd und heldenhaft alle
offenen Türen eintreten“. Es gibt sie, die Bewohner der neuen „sozialistischen
Gartenlaube“, die „Kaputtgeförderten“, die „Wasserleichen der Lyrikwelle“.
Aber es gibt auch
noch ein paar andere. Einer von ihnen ist Frank-Wolf Matthies, 1951 in Berlin
geboren. Er hat wie mancher andere Autor eine bunte Palette von Berufen
aufzuweisen: Kunstschlosserlehrling, Bankhilfskraft, Hilfsschuster,
Grabenzieher. Früh hat er zu schreiben begonnen „Unbedacht oder überlegt“ ging
er umher in der Stadt und sagte halbe Sätze, etwa: „ Mit ihren Trommeln
antworten sie auf eure Frage, mit ihren Gewehren zerschießen sie euch, wenn ihr
handelt wie die, die ihr seit nach ihren Worten.“ So beschreibt Hans Joachim
Schädlich in seinem Text „Kleine Schule der Poesie“ die Anfänge von Frank-Wolf
Matthies, die ihn schnurstracks in die Untersuchungshaft führten.
Jung wie er war,
widerstand er den ausgeklügelten Methoden des Staatssicherheitsdienstes, seinem
wohldosierten Terror nicht und paßte sich nach seiner Entlassung eine Weile an.
Dann aber begriff er, daß auch er in den „Gleichklang gekrümmter Stimmen“
einfiel und daß er damit seine Sprache verlor, seine intellektuelle und
moralische Existenz aufs Spiel setzte.
Die in dem Band
„Morgen“ versammelten Texte aus zehn Jahren sind in der Tat das Wort einer neuen
Generation. Die 40-, 50-, 60jährigen messen den Zustand der DDR an der Not der
Weltkriegsjahre, am Terror der Hitler- und Stalinzeit, und im Vergleich dazu
erscheint ihnen manches eigentlich Unerträgliche in einem allzu milden Licht.
Autoren wie Matthies sind im „realen Sozialismus“ aufgewachsen, aber nicht mehr
bereit, die Schwächen und Verbrechen der Gegenwart mit dem Hinweis auf
schlechteres Irgendwann, Irgendwo zu entschuldigen: „Ich schreibe für die
Benutzer der Betonsilos am Röderplatz, der Leninallee und des
Hans-Loch-Viertels. Für die Bewohner der Dachwohnungen von Pankow bis
Friedrichshain, die Wohnungssuchenden und die 6-Zimmer-Besitzer. Auch für die
Parasiten beim Wohnungsamt, in den Büropalästen: die deutsche Beamtensau in
vollklimatisiertem Chrom und Glas. Auch für die Kuppler beim Standesamt. Die
Hehler der kommunalen Wohnungsverwaltung.“
So lautet ein Teil
seines poetischen Kredos, das er als „Nachtrag ins Vernehmungsprotokoll“ seinen
„besorgten Genossen Besorgern“ widmet. Er schreibt „über die Jahreszeiten. Über
den Frost und den März in Pankow und Prenzlauer Berg“, er schreibt „für die
Beamten der deutschen Volkspolizei … die jeden Zweifel in Feindschaft umdeuten
und jede Kritik in Verrat“. Das Programm dieses jungen Schriftstellers ist in
der Tat das ganze Leben, ohne Einschränkung, ohne Tabus.
Liebeslyrik und
Naturgedichte, Stadtlandschaften und politische Pamphlete – das alles findet
sich bei ihm und zudem in großer formaler Vielfalt. Matthies reimt und er
schreibt freie Verse, er ahmt das Taumeln eines betrunkenen Dichters im Zickzack
der Typographie nach, und er bastelt sogenannte Akrosticha. Verse, deren
Anfangsbuchstaben, von oben nach unten gelesen, ein Gedicht im Gedicht ergeben.
Solche Dinge kennt man auch aus Shakespeares Dramen und aus dem Barock. Bei
aller politischen Absicht ist hier auch die Lust am Spiel vorhanden. Jedes
Gedicht ist anders. Man hat sich auf jedes neu einzustellen.
Ob Matthies diese
Variationsbreite durchhalten kann und soll, steht noch dahin. Manches ist erst
tastender Versuch auf dem Weg, den eigenen Stil zu finden. Aber nicht weniges
ist fertig, ja vollkommen und den Preis wert, den ihm die Strafbestimmungen der
DDR abverlangen könnten. Nirgends hat Matthies seine Hoffnung auf morgen
bündiger zusammengefaßt als in diesen sechs Zeilen:
Wenn die Nachfrage
steigt
steigen auch die Preise
Der Preis der Freiheit steigt
wenn die Nachfrage sinkt
Doch wenn alle nach ihr fragen
ist sie umsonst zu haben
Dieses aus dem
Jahr 1976 stammende (und Wolf Biermann gewidmete) Gedicht ist auf seine Weise
schlüssig und logisch. Freilich, was im Klassenkampf zählt, ist nicht die Logik,
sondern die Dialektik. Und das bedeutet leider, daß der Preis der Freiheit in
den letzten vier Jahren weiter gestiegen ist, obwohl die Nachfrage kaum gesunken
sein dürfte.
Karl Corino,
Hannoversche Allgemeine, 26./27.4.1980
Zu Patricia im Winter
Im November 1980
wurde der Ost-Berliner Autor Frank-Wolf Matthies
inhaftiert, und es wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen den §
219 des DDR-Strafgesetzes gegen ihn eröffnet, d.h. wegen Veröffentlichungen im
Ausland, „die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden“. Gegenstand des
Verfahrens war u.a. Matthies’ Manifest „Auf der Suche nach Herrn Naumann“, ein
beeindruckendes literarisches Dokument der Anklage gegen das Klima der
Unterdrückung und Verfolgung in der DDR. Es eröffnet nicht von ungefähr den
vorliegenden zweiten Gedichtband von Matthies. Kompromißlosigkeit und
Verzweiflung – Haltungen, die die Kritik seinem ersten Gedichtband „Morgen“
bescheinigte – gelten allemal für diese 1979 und 1980 entstandenen Gedichte. Sie
zeichnen sich durch eine (für bundesrepublikanische Lyrikverhältnisse)
ungewöhnliche Formenvielfalt aus, vom Moritatenton zur Liedkontrafaktur, vom
Zweizeiler zum reihenden Langgedicht, von der gebundenen Form zum Prosagedicht.
Mit dem virtuosen Gebrauch der lyrischen Formen steht Matthies in einer
Tradition von Lyrik, die unter Bedingungen von Angst und Unterdrückung die
formale Contrebande gegen die Staatsgewalt setzte. In jeder Form sind aber der
Zorn und die Empörung spürbar, der Gestus der Anklage gegen Korruption und
Anpassung sowie das Einklagen von Glück.
Rowohlt Verlag, Klappentext, 1981
Deutschland im Winter.
Als im Mai 1979 Matthies’ erstes Buch („Morgen –
Gedichte und Prosa“) erschien, da lebte der Autor noch in Ost-Berlin. Im
November 1980 dann wurde er inhaftiert, wegen Veröffentlichungen im Ausland,
„die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden“; ein Ermittlungsverfahren
wurde gegen ihn eröffnet. Im selben Jahr erschien sein zweites Buch, ein Band
mit Erzählungen. Seit Oktober 1981 nun liegt seine dritte Veröffentlichung vor,
wiederum Gedichte (und Prosastücke, „Manifeste“ genannt, die der Verlag im
Untertitel verschweigt). Im Januar 1981 erhielt Matthies die Ausreisegenehmigung
und lebt seither im westlichen Teil Berlins.
Dies sind die biographischen Hintergründe einer
Schriftstellerexistenz, wie sie in den letzten Jahren so manche DDR-Autoren
aufzuweisen haben. Und diese Hintergründe sind es, welche die Feuilletonchefs
und Leiter der Verlagsabteilung „Werbung“ konsequent, wenn nicht rücksichtslos
ausschlachten, wenn es darum geht, neue Bücher der betreffenden Autoren auf dem
Markt durchzusetzen.
Oft jedoch erweisen sich die Werke selbst als
weniger publikumsträchtig, als viel weniger aufregend als die nackten
biographischen Daten. Nicht so im Falle Frank-Wolf Matthies: sein bisheriger
Lebensweg ist nicht bloß billiges Mittel zum Zweck, sondern der ganz konkrete
Ausgangspunkt seiner literarischen Arbeit. Matthies’ subjektive Erfahrungswelt
liefert ihm das Material für Texte vielfältigster Formen und Inhalte.
Matthies’ Verse, das sind Bilder der Angst, der
Ratlosigkeit, der Verbitterung; die Waffen, mit denen er sich gegen
Unterdrückung, Resignation und Verzweiflung wehrt, sind sein schier grenzenloser
Mut, seine Hoffnungen, sein entlarvender, hintergründiger Humor, der die
herrschenden Zustände nicht selten ins Absurde, Groteske steigert. Wenn es im
Manifest „Auf der Suche nach Herrn Naumann“ etwa heißt: „… also kommen da
plötzlich Zwei & installieren einen Fernsehapparat, was genauer heißt: Einer
arbeitet & der Andere versucht unterdessen mit mir über die Qualität des „Neuen
Deutschland“ zu diskutieren. Nach einer Stunde sind die 50 Gramm RONDO-Kaffee,
welche in aller Eile von Frl. Elvira C. beschafft wurden, gemahlen, aufgebrüht &
getrunken. Wenig später sind auch die beiden Telefonanschließer verschwunden –
ein Freund betrachtet das Telefon gründlich & findet so ein kleines
elektronisches Dingsda“, so sagen diese Zeilen erheblich mehr über den
DDR-Alltag aus als alle Klischees, die hierzulande kursieren.
Authentizität durch Bruchstücke Realitätspartikel
der abendländischen Konsumkultur: die Surrealisten werden zitiert, Werbeslogans
halten her, Pollux, Rilke, Adolf Hitler, Patricia, des Dichters Geliebte, der
preußische Dagobert Duck und viele andere illustre Köpfe mehr geben sich ein
feucht-fröhliches Stelldichein, und zwischen den Zeilen, auf dem Weiß der
Blätter, reimt sich zusammen, was dem Autor unter den Nägeln brennt, was seinen
Zorn, seine Empörung, seine Kritik heraufbeschwört. Ob in Zweizeilern,
Langgedichten oder Moritaten, ob in Liedform oder im Märchenstein, Matthies
knüpft vielfältigste Assoziationsketten, setzt Bezugspunkte, skizziert mögliche
Handlungsvarianten und bietet dem Leser genügend Freiraum für eigene
Überlegungen.
Der berühmt-berüchtigte Deutsche Herbst von 1977
gerät so langsam in Vergessenheit, doch das (allgemeine) Klima hat sich
keineswegs verbessert. Nicht nur in diesen Gedichten ist es Winter geworden,
Frost und Kälte sind längst nicht nur mehr Kräfte der Natur; eine eisige (Jahres)-Zeit
steht uns bevor, vielleicht trösten Matthies’ Gedichte über manches Unbehagen
hinweg.
Georges Hausener, Letzeburger Journal, 5.12.1981
FRANK-WOLF MATTHIES ADRESSEN AUS DEN
HEFTEN FÜR PATRICIA
Zwischen den Stühlen
Frank-Wolf Matthies, Jahrgang 1951, gehört zu jeden
Autoren, denen es auferlegt ist, zweimal einen Anfang zu machen. Dort wo er
herkommt, zur Sprachlosigkeit verurteilt und hier, eine neue Sprache zu finden.
Ein Mann zwischen den Stühlen mit dem Gepäck von gestern, und das wiegt schwer.
Seit Anfang der siebziger Jahre setzt sich Matthies mit dem
Leben in der DDR literarisch auseinander. Sein kritischer Blick und seine
Ehrlichkeit brachten ihn schon früh in Konflikt mit dem herrschenden System.
Nach mehreren Verhaftungen, alle Aufzeichnungen wurden vom MfS beschlagnahmt,
verlässt er 1981 das Land, das seine Entwicklung so sehr geprägt hat. Den Rücken
gebeugt von dieser Last, seine Manuskripte und Aufzeichnungen nur noch im Kopf,
geht er seinen Weg in das andere Deutschland.
Angekommen in der „neuen“ Welt schreibt er „- durch den
Briefschlitz nicht zu hindern / Feindesland in Muttersprache drückt mir sacht
die Kehle zu / und kein Trost in stummen Händen eingefangen von der Fremde bin
ich krank vor kalter Sehnsucht-„.
Ist in diesen Zeilen, wie auch in anderen Gedichten vom
Anfang der achtziger Jahre noch die Gebrochenheit des DDR Alltags zu spüren, so
wandelt sich dies zunehmend. Matthies beginnt, sich mit der Mediensprache
auseinanderzusetzen, immer im Bezug auf konkrete Anlässe. Dabei hat er den
Einzelnen im Blick, vermeidet es konsequent zu pauschalisieren.
So schreibt er: „In der Nacht zum 14. Januar steht der
25jährige Hans-Georg Schulz auf dem Autobahnparkplatz / Richtung Kassel / mit
zwei geladenen Pistolen / auf irgendwas wartend / bis er Scheinwerfer sieht: /
„Ich wartete / bis er ihn drin hatte / dann drückte ich ab“
Die Auswahl der Gedichte dieses Bandes zeigt den Weg eines
Menschen, der jegliche Scheinheiligkeit verabscheut, der wachrütteln will, der
etwas zu sagen hat, der immer zur Veränderung drängt, indem er uns den Spiegel
vorhält. Ein Skeptiker und Mahner – er bleibt kein neutraler Beobachter, sondern
wird zum mitfühlenden Partner. Ein Grund, dieses Buch zu empfehlen. „Die Angst,
ein täglicher Begleiter – was morgen wird, sie hats erdacht; / und dennoch
weiter, weiter... / die Augen zu und laut gelacht. / Nur nicht zögern, nur nicht
zagen – wer verzagt / geht auch schon unter; stets von neuem muß ich’s wagen /
wenn auch schaudernd munter, munter...“
Christian Scherfling Neues Deutschland 10.12.93
FRANK-WOLF MATTHIES VON DER EROTIK DES
ZEITEN VERNICHTEN
Grölend wie lispelnd, rasant wie bedächtig, schmissig wie
zögerlich, rauh und nicht minder sanft, o.k! Trotzdem, was bedeutet solche
Akkumulation unterschiedlichster Gedichte – und einige von ihnen gehören zu den
beachtlichsten der letzten Jahre –, was soll es uns sagen, soll es uns
vielleicht sogar verhöhnen, wenn einer an einem einzigen Tag, nämlich am 10.
April 2000 nicht weniger als 7 Gedichte entstehen läßt (und es nicht verbirgt,
sondern mittels Datierung hervorhebt), an einem anderen 4, an einem weiteren
„nur“ 3; etc.? Mit einem (etwas langen) Satz: Wie all die tollen Bücher und
Büchlein von Frank-Wolf Matthies stellt auch dieses für den Leser wie für den
Kritiker eine ganz schön gepfefferte Herausforderung (bzw. Zurückweisung) dar
wenn auch auf die ziemlich singuläre Weise dieses Mannes, die freilich trotz des
besten Willens unseres Autors nicht verhindern kann, daß wir hier eine nicht
kleine Zahl von Texten finden, denen wir von Zeit zu Zeit wiederbegegnen
möchten, zum Beispiel dem langen Gedicht „Wildau im September“, dem vermutlich
bisher trefflichsten, poetischsten Werk zum Thema „Nachwende-Osten“, daß
indessen auch unter den 7 Gedichten verschiedener Gewichtigkeit vom 10. April
2000 kein einziges sich finden dürfte, dessen der Autor sich schämen müßte! Und
überhaupt: Dieser wüste Vater-und Mutter-Ubu-Spezialist in den märkischen
Forsten, im wunderbar „besungenen“ Friedrichsthal
hinter Oranienburg, die Welt und den „Zeitgeist“ bespuckend; lobend aber die
arme Pfütze vorm Häuschen... usw.; nein, ich will es auf eine Reihung von
Formeln nicht ankommen lassen, keine träfe ganz. Auch als späten „Beatnik“
(Gerrit-Jan Berendse) würde ich ihn nur im äußersten Notfall bezeichnen. (Was
diesen Punkt betrifft, käme eventuell als eines der Beweismittel das
„Gelegenheitsgedicht auf eine alte Jacke“ in Betracht.)
Nein, ich habe nicht die Absicht, hin und her irrend endlich die einleuchtende
Formel zu finden, die die Leistung von Frank-Wolf Matthies faßt (erfaßt).
Vielleicht darf man aber dennoch so zusammenfassend wie vage sagen: Es ist die
konvulsivische Widerborstigkeit der matthiesschen Existenz schlechthin (inclusive
seines vielfältigen Werkes, das sich jeder geschmeidigen Plakette widersetzt.
Wer trotzdem solche Plakette bosseln könnte, würde mit Sicherheit alsbald einen
Strich durch seine glatte Rechnung gemacht bekommen – und so geht es in dem
vorliegenden Band von Phase zu Phase, oft von Gedicht zu Gedicht – und zwar
unter Umständen so rabiat, daß mancher eher geneigt sein wird, die Beziehungen
zu dem Herrn und seinem Werk abzubrechen. Anders ausgedrückt: Vor allem den
besseren Sammlern ist zu empfehlen, alles zusammenzusammeln, was unter dem Namen
Frank-Wolf Matthies publiziert oder nicht publiziert worden ist; vorher sollte
man sich eine nicht zu winzige Schatztruhe kaufen.
Adolf Endler Berlin, d. 23. 08. 2001 (aus dem Galrev
Katalog)
Frank-Wolf Matthies, der andere mit der
kleinen Besonderheit, ist ein bedeutender Heimatdichter unseres Ostens.
Von der Erotik des Zeiten vernichten heißt sein neuer Band. In hohen
Tönen lobt Adolf Endler Vielfalt, Vielform und Vielstimmigkeit des matthiesschen
Werkes: „grölend wie lispelnd, rasant wie bedächtig, schmissig wie zögerlich,
rau und nicht minder sanft...“ Und das lange Gedicht „Wildau im September“ ist
ihm „das vermutlich bisher trefflichste, poetische Werk zum Thema ‚Nachwende
Osten’...“ Da will man sich nicht einmischen. Wildau, im Berliner Umland, dort
lebt Matthies, Kontenführer, Reparatur-Schuster, Dispatcher, Kellner,
Taxifahrer, Leichenwäscher, Kameraassistent, Grabenzieher, Bausoldat,
Eisverkäufer, Filmvorführer... Verhaftungen, Bedrückungen. Ach ein leichtes Leben
hat der nie gehabt. Heute:
„Was ich im Leben bin, läst sich schnell sagen: ein
Einsiedler zu sechst – mit meiner Frau, unserem Hund, der Katze und zwei
Kaninchen – der es sich zur Gewohnheit gemacht hat, nicht, oder nur sehr selten
mit seinen Zeitgenossen zu verkehren...“ „Und wir zwischen / den Sesseln
und / Stühlen: / mit nichts als / Gefühlen - / zerbröckelt, verbetoniert, /
gestöckelt..., heißt es in „Mühlen“.
So bittersüß Matthies’ Exkursionen in Restnatur und
Restleben im Datschenland sind, wie von weit her die alten Dichter-Träume von
der feuchtschimmernden, bestiegenen, heilenden Frau, hier wird er aus anderen
Gründen dringlich ins Feld geführt: Matthies knittelt in rüden, rücksichtslosen
Versen die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse nieder, und das ist
wie wieder atmen dürfen, nach all den Windungen und Sedierungen mit Niveau der
Bildungsboheme und dem Plätschern im Entlegenen. Es ist eine Frischluftdusche
und es tut so gut, weil es Zeit ist: „Bewusstsein muss wieder Bürostunde haben!“
Mindestens.
Ein Arsch muss wieder ein Arsch genannt werden, die
Globalisierungswichserei ein alter verkommener Dreck, kapitalistisches Rasen,
Mercedes-Sterne in Mitte zu ernten und sie umgeschmolzen über Bethlehem leuchten
zu lassen, eine Ehre; „die Mitte“ sei wieder ein Loch und das Dauergrinsen muss
aus den Zähnen geschlagen werden! So steht es geschrieben. Schon verhöhnt uns ja
die zarte Weltneuheit: „Ein kleines Bewußtsein und ein großes Bewußtsein
liegen mit ihren Füßen im Waldmoos...“ („Der Ablaß“)
Böller aus der Matthies-Kanone: „... Die mächtigen Freunde
in Übersee/ wann immer ich mir die News in meine vier Wände hole / Immer
nur Grinsen / Grinsen und Kriege um Kohle / Das Leben ist wie ein einziges
Schmieren- nein Grinsetheater / jetzt grinst der Sonnyboy / vorher
grinste der Vater / Ich versuche erst gar nicht nach oben zu linsen / muß ich
doch fürchten: auch da oben ein Grinsen...“ („Alles Prima“) „... Wie eh & je.
Dieselbe Tristesse wie / im 20sten Jahrhundert, im 2ten Jahrtausend, //
dieselben blöden Arschgesichter, dieselben / in den Fernsehnachrichten,
dieselben verlogenen // Sprüche aus den grinsenden Löchern in / Denselben blöden
Arschgesichtern über denselben // Titten, oder aber den adretten Krawatten /
Derselben Strolche aus Kunst & Politik, alles // Wie gehabt: der
fabrikneue Müll der Versandhaus- / Kataloge, das Narrengedudel der Hitparaden,
die // Allgemeine Verblödung, die Sehnsucht nach / Vermassung, nach lustloser
Spaßgemeinschaft, // Gestank, Geflimmer, Gefotze (‚Schröder die Fotze’ //
Gesprächsfetzen, vorbeigeweht, am halboffenen / Autofenster, Oranienburg,
Vorortnachmittag, vorbei // Die Zeiten, da Arschloch noch kein // Kompliment und
Fotze nur uns beide was / Anging, von einem Staatstrolch mindestens // Soweit
entfernt, wie die beiden Enden / Von Dantes Wanderung) ...“ (21stes
Jahrhundert“)
„... Der / Tellerrand ist / der Tellerrand. Wer aber /
Klimmzüge machen muß / darüber hinweg zu / blinzeln, der ihn nicht hoch / kriegt
und sich nicht / hoch kriegt, der kann nicht / zugleich in der Mitte sein. Aber
/ dann ist doch Deine Mitte gar nicht / die Mitte, dann ist doch da eine / und
da eine und da / vielleicht auch noch eine / höre ich schon den coolen Mr. Cool
/ zwischen zwei Geldbündeln / einwenden. Genau so / die Mitte des
Bürgerrechtlers / ist das Arschloch / das seine Rentenbescheide / ausscheißt und
die Mitte der netten / Psychologin ist da wo Chiquita ein & aus geht und
die Mitte / all der Stasi-Enttarner ist ein riesiger Scheißhaufen aus Zelluloid
/ Bunkerbeton und muffigen / Erinnerungen...“, sagt Matthies und steckt seinen
Ringfinger in die Saftmitte von Kim Carnes („Ihr da, an den Rändern“). „Ich
wünschte“, wünscht Matthies, „Gott griffe zum Telefonhörer, nachts halb drei...
Hör zu, nimm Deinen 38er und geh los“ Wer wünscht das nicht.
Kommune 5/2002
FRANK WOLF MATTHIES AENEIS
Wie einst Ginsberg kündigt Matthies im aggressiven Ton
seine Aversion gegen den anonymen Moloch Staat an. Die an Hofmannsthals
berühmten Chandos-Brief (1902) erinnernde, von vielen seiner Generationsgenossen
in der Prenzlauer-Berg-Szene heraufbeschworene Sprachkrise bleibt bei ihm jedoch
aus. Statt dessen verfeinert er seine sprachlichen Agitationen in der Form
politisch-engagierter Klartexte, nistet sich in der kulturpolitischen Ruine ein
und erklärt den Ostberliner Stadtbezirk zum »Freistaat des Skurrilen«. In den
Texten, die er in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre schrieb, treten
Matthies´ fiktive Figuren – ins Handgemenge der Macht geworfen – als Sprachrohr
ihres Schöpfers auf. Dabei bietet sich die Arena der Subkultur als Verstärker
seiner Stimme an. Urbanität, Mobilitätssucht, Hedonismus und Außenseitertum
bestimmen die Szenerie, in der immer wieder der Beat-Habitus glorifiziert wird.
Der Dialog mit der Literatur der nordamerikanischen BeatGeneration findet jedoch
selten direkt statt. Die meisten intertextuellen Korrespondenzen sind aus
zweiter Hand, d. h. angereichert von jenen Schriftstellern aus Ost und West, die
als deutsche Vermittler des Beat bezeichnet werden. Insbesondere die
Wahlverwandschaften mit Wolf Biermann, Adolf Endler und Rolf Dieter Brinkmann
sind prägend für das Schreiben von Frank-Wolf Matthies.
Die Brisanz der Matthies´schen Poesie und Prosa liegt nicht
so sehr in der epigonalen Tugend, sondern vielmehr in der Hartnäckigkeit, mit
der der Autor sein Sujet durch die Jahre hindurch präsentiert. Dabei hat er nur
ein Thema: Prenzlauer Berg. Auch nach seinem »freiwillig-gezwungenen« Umzug nach
Westberlin im Januar 1981 klammert er sich an die Beschreibung bzw. Simulation
dieses Topos fest. In der Zeit nach dem existentiellen Bruch, als er die Ahnung
des Subkulturellen wenigstens fiktiv wiederzubeleben versuchte, manövrierte sich
dieser Ost/West-Beatnik außerhalb des Rahmens jedweden literarischen
Kanons.
gerrit jan berendse(aus dem Programmheft Galrev)
FRANK WOLF MATTHIES OMERUS VOLKMUND
Diese Erzählungen übertragen (und wir unterscheiden ja
durchaus begründet des weiteren zwischen Übersetzen und Nachdichten)
gesellschaftliche Zusammenhänge in ihre ungeselligen, polarem Erbe
entsprechenden Effekte: inerseits die offizielle Vermengung und demgegenüber
jenes Ich, das, vom sich angeeigneten Bilde ausgelöscht, meint, in Ehren sich
Wehren, sei der Text und aus dieser angenommenen Identität schreibe sich
Geschichte.
Aber selbstverständlich ist es so, daß der Text sich
schreibt und die einzigen, die dies nicht wahrhaben wollen sind die Namen, die
ihn erleben. Daher einst die Spannung von Literatur, diese ungeheuerliche Nähe
und Ferne zugleich.
Frank-Wolf Matthies hat Zeit, weil er Texte schreibt, die
sich nicht auf das Phänomen als solches stürzen, um in ihm verloren zu gehn.
(aus dem Galrev Katalog)
„Das habt ihr
mit mir gemacht“
„Omerus
Volkmund“ von FRANK-WOLF MATTHIES
Dreizehn Jahre hat es gedauert, ehe Frank-Wolf Matthies in
der Lage war, einen Schlußstrich unter einen Lebensabschnitt, geprägt von
literarischem Widerstand in der DDR, Veröffentlichungsverbot, Beschlagnahmung
aller Manuskripte durch die Stasi, Übersiedlung in den Westen und nicht zuletzt
von dem durch die Wiedervereinigung vereitelten Versuch der Abschottung und des
Vergessens. Mit diesem Buch nun macht er reinen Tisch. Bewußt wählte Matthies
die Prosaform, erscheint ihm doch Lyrik, da oft zu verschwommen und unkar, als
nicht verständlich genug. Hier geht es nicht um literarische Spielerei, er will
sich verstanden wissen, in brutaler Deutlichkeit zeigen: „das habt ihr mit mir
gemacht“. Durch alle fünf Geschichten des Bandes zieht sich wie ein roter Faden
die Abrechnung – bitterböse, sarkastisch. Besonders auffällig ist dies im
Titeltext „Omerus Volkmund“. Matthies beschreibt hier die „Herstellung einer
sozialistischen Literatur“, gesteuert durch Partei und „Chefideologien“, bei der
Autoren und Texte austauschbar werden. „Erik Görlich“ oder das „Neutsch“, sei
das nicht wechselbar ohne Wehen? „… einen Darsteller für das „Neutsch“ zu
finden, hat meines Wissens dann doch noch geringere Mühe bereitet… in deutschen
Landen, wo ohnehin jeder zweite ein Polizist in Wartestellung ist…“ Das ist kraß.
Die Schärfe des Textes erinnert an Bernhards Auseinandersetzung mit seiner
Heimatstadt Salzburg.
Voller Zorn steckt auch die Erzählung „Über das
Verschwinden – Person und Werk Henri Goldmanns“. Hier prügelt Matthies
hemmungslos, und wohl oft zu recht, auf die „aasgeierähnliche Berichterstattung“
der Presse ein. In aller Zuspitzung greift er das weitverbreitete Prinzip der
Reduzierung auf die Schlagzeile, der Unterordnung aller sachlichen Belange unter
die Verkaufszahlen an. „Sie kommentieren nicht die Bewegung des Pöbels, sondern
der Pöbel bewegt sich nach ihren Kommentaren.“ Leider enthält sich Matthies
jeglicher Differenzierung, disqualifiziert durchaus zutreffende Feststellungen
durch einen wüsten Rundumschlag.
Man liest dieses Buch mit Nachdenklichkeit und Wut. Was
bleibt, ist die Erkenntnis der eigenen Hilflosigkeit und ein bitterer Geschmack
auf der Zunge.
Christian Scherfling Neues Deutschland
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